Datenlücke in der Medizin: Warum wir frauenspezifische Forschung brauchen

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Medizinische Erkenntnisse werden für alle Menschen gewonnen. Eigentlich. Da aber häufig noch immer der Mann als "Standard" gilt, sind Dosierungen und Diagnosen für Frauen häufig unpassend. Das ist keine feministische Weltverschwörung, sondern Realität.

Inhaltsverzeichnis

Wer krank ist, will vor allem eins: die bestmögliche Behandlung. Dazu fehlt bei Frauen jedoch in vielen Fällen noch immer die notwendige Informationsgrundlage. Diese geschlechterbezogene Lücke in den Daten, der sogenannte "Gender Data Gap", ist zwar nicht so bekannt wie der "Gender Pay Gap". Hat aber vor allem in der Medizin oft weitreichende Konsequenzen.  

Frauen sind kompliziert

Frauen unterliegen monatlich zyklischen Schwankungen, können schwanger werden und verändern sich im Laufe ihres Lebens hormonell stärker als Männer. Bis Mitte der 1990er war das Grund genug, sie aus klinischen Studien zur Erforschung und Zulassung von Medikamenten einfach auszuschließen. Zu „kompliziert“, zu schwankend. Es war leichter, den Mann als "Standard-Mensch" zu nehmen und "die Frauen hinterher, quasi als „kleine Männer“, in den Dosierungen runter zu reduzieren.

Seitdem sind fast 30 Jahre vergangen. Das Fachgebiet der geschlechtsspezifischen Medizin hat sich entwickelt. Denn Frauen sind natürlich keine "kleinen" Männer" – ihre andere Körperzusammensetzung, der Hormonhaushalt und ihre individuelle Interaktion mit dem sozialen Umfeld hat einen entscheidenden Einfluss auf Gesundheit und Genesung. "Pink it and shrink it" sollte also passè sein.

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Wo stehen wir heute?

Schaut man sich die Medizin an, wird deutlich, dass sich in vielen Bereichen noch nicht viel geändert hat. Umdenken dauert lange und neue Daten bauen auf Alten auf. So nimmt z.B. die innovative medizinische Diagnose mittels künstlicher Intelligenz, aus Mangel an neuen Daten, häufig vorhandene „Männerdaten“ als Basis. Erstellt der Computer dann daraus abgeleitete Algorithmen, sind auch diese natürlich immer lückenhaft und verzerrt. Egal wie modern die Technik ist.

Heißt: solange bestehende Datenlücken nicht geschlossen werden, wird sich der Gender-Data-Gap weiter durchziehen.

Wo zeigt sich der Gender-Data-Gap?

Die Folgen des Gender Data Gaps sind vielfältig. Sie können harmlos sein und den Alltag von Frauen etwas umständlicher gestalten. Ein paar Beispiele: Die Standardtemperatur in Büros ist häufig etwas zu kühl für eine durchschnittliche Frau, die Regale in den Läden so hoch, dass sie nur mit Mühe erreicht werden können. Weniger harmlos ist, dass bei der Entwicklung von Auto-Sicherheitsvorrichtungen weiterhin ein Männerkörper als Standard gilt. Der weibliche Dummy (übrigens 155 Zentimeter klein und 54 Kilo schwer – ist das die „Durchschnittsfrau“?) sitzt auf dem Beifahrersitz.

In der Medizin sind die Datenlücken zum Teil lebensbedrohlich.

Frauen brauchen eine andere Dosis

Die andere Stoffwechselsituation und Entgiftungsleistung von Frauenkörpern beeinflusst Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten. Eine Tablette braucht für den Weg durch den Körper einer Frau – vom Mund durch Speiseröhre, Magen und Darm – zum Teil doppelt so lange wie durch den eines Mannes.

In der Leber, wo der aufgenommene Wirkstoff verarbeitet wird, sind andere Mengen an Stoffwechsel-Enzymen vorhanden. Das wirkt sich unmittelbar darauf aus, wie lange und wie viel aktiver Medikamenten-Wirkstoff im Blut zu finden ist.

Gleichzeitig verteilt sich durch den meist höheren Körperfettanteil bei Frauen und ihre oft geringeren Körpergröße, der Wirkstoff im Gewebe anders als bei Männern. Schaut man auf den Beipackzettel, wird dies in den Dosierungsangaben selten alles berücksichtigt. Selbst wenn die Dosierungen für Mann und Frau unterschiedlich ausgewiesen wird; auf den hormonellen Status wird nicht eingegangen. Und das obwohl allgemein bekannt ist, dass gerade hormonellen Schwankungen dazu führen können, dass Medikamente in unterschiedlichen Phasen des Zyklus auch unterschiedlich wirken. Ganz zu schweigen von der veränderten Basis nach den Wechseljahren.

Frauen zeigen teils andere Symptome

Hundertmal haben wir in Filmen gesehen, wie sich jemand an die Brust fast, über Schmerzen und Enge klagt und zusammenbricht. Die Diagnose ist klar: Herzinfarkt. Bei uns Frauen sind die Symptome jedoch häufig ganz andere. Bei uns kündigt sich ein Herzinfarkt eher durch Bauchschmerzen, Kurzatmigkeit, Übelkeit und Müdigkeit an. Symptome, die weder von uns Frauen selbst, noch von den ÄrztInnen, mit dem Auslöser in Verbindung gebracht werden.

Herzinfarkte werden daher bei weiblichen Patientinnen häufig übersehen oder fehldiagnostiziert. Daher ist die Sterbewahrscheinlichkeit von Frauen nach einem Herzinfarkt höher als die der Männer.

Gerade wenn man bedenkt, dass das Herzinfarkt-Risiko durch den Verlust des schützenden Östrogens nach den Wechseljahren steigt, ist das fatal. Der Herzinfarkt mag ein Extrembeispiel für Unterschiede bei den Symptomen sein. Aber er ist kein Einzelfall.

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Was wir brauchen!

Bis heute gibt es keine allgemeingültigen Standards, wie das Geschlecht in der Forschung abgefragt werden kann und muss. Es geht ja nicht nur um Mann oder Frau, sondern auch um Alter oder hormonellen Status. Deshalb wurde im Februar 2022 ein offener Brief an die Regierung entsandt, in dem Vertreterinnen und Unterstützer der geschlechtsspezifischen Medizin erklären, was geschehen muss:

"Damit die Defizite der Daten- und Studienlage durchbrochen werden, brauchen wir im Bereich der Forschung und Entwicklung eine Sensibilisierung für Differenzierungen nach biologischem und sozialem Geschlecht. Dazu sollten bereits Ausschreibungen und Studien so gestaltet werden, dass Daten zwingend geschlechtsspezifisch zu erheben sind und eine qualifizierte geschlechtsspezifische Analyse a priori im Studienprotokoll vorgesehen ist."

Weiblich gleich von Beginn an

Studien zeigen, dass weiterhin 70 Prozent der Tierversuche an männlichen Ratten vorgenommen werden. Nur 10 Prozent an weiblichen Tieren, 10 bis 20 Prozent an Tieren beiderlei Geschlechts und in 10 Prozent der Fälle ist das Geschlecht der Versuchstiere unbekannt. Das muss sich dringend ändern! Gleich von Beginn an müssen Frauen einbezogen werden.

Tatsache ist, dass Arzneimittel, die nur an männlichen Tiere entwickelt wurden, dennoch für Frauen eingesetzt werden. Ein anschauliches Beispiel der Konsequenzen lieferten vor einiger Zeit die Gerinnungshemmer: Darf eine Frau mit Herzinfarkt einen Gerinnungshemmer bekommen, wenn sie ihre Tage hat? Bei Markteinführung dieser neuen und für die Therapie äußerst wichtigen Medikamente hat man darauf keine Antwort. Sie wurden ja nur an männlichen Probanden getestet.

Chance für eine bessere Medizin

Die Diskussion um das „Gender-Data-Gap“ ist kein "Quoten-Thema". Es geht hier darum, ein gleiches Geschlechterverhältnis herzustellen. Nicht statisch, 50% Frauen zu 50% Männer, sondern orientiert an der tatsächlichen Geschlechterverteilung von Krankheiten.

Bei Brust- oder Prostatakrebs ist das jedem klar. Unterschiede gibt es aber in vielen Bereichen: Frauen leiden überproportional häufig an Kniegelenksarthrose, Alzheimer, Osteoporose, an Autoimmunerkrankungen oder Schilddrüsenproblemen und das Risiko von Herz-Kreislauf-Problemen steigt nach den Wechseljahren stark an.

Bei vielen Krankheiten ist bisher noch unklar, warum sie eher Frauen oder eher Männer treffen. Dabei läge im besseren Verständnis sogar eine große Chance für neue Behandlungsmethoden. Möglicherweise könnte man körpereigene Stoffe, die beispielsweise eine Frau vor dem plötzlichen Herztod schützen, als Therapieansatz für ein Medikament für die Männer nutzen.

Licht am Horizont

Langsam aber sicher tut sich etwas in der Frauenforschung. Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung steht: "Die Gendermedizin wird Teil des Medizinstudiums, der Aus-, Fort- und Weiterbildungen der Gesundheitsberufe werden." In der Schweiz und in Österreich ist man schon etwas weiter. Dort ist dies schon Teil der meisten Studienplänen angehender MedizinerInnen.

Bis dies Alltag in Forschung, Entwicklung und Arztpraxen ist, wird es natürlich noch dauern. Umso wichtiger, den eigenen Körper gut zu kennen, zu verstehen und seine Gesundheit sensibel selbst im Auge zu behalten!

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Studien & Quellen

Scandinavian Journal of Gastroenterology: Gender Differences in Gut Transit Shown with a Newly Developed Radiological Procedure. R. Saik
Pages 36-42 | Jun 2002
Sex Differences in the Expression of Hepatic Drug Metabolizing Enzymes. Molecular Pharmacology: Waxman et 2009
Women’s involvement in clinical trials: historical perspective and future implications. Pharm Pract (Granada). 2016
Offener Brief an die Bundesregierung 23. Februar 2022
Buch: Invisible Woman Caroline Criado-Perez, 07. März 2019
Fachzeitschrift «Frauenfragen»: Frauenfragen 4.0: Digitalisierung und Geschlecht 2020 der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen EKF
Frauen im öffentlichen Raum: Rechtsschutz und Massnahmen zur gleichberechtigten und sicheren Nutzung Kurzstudie des SKMR, 2022